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Vage Hoffnung für Parkinson-Kranke

Überlegungen der Medizin-Nobelpreisträgerin Rita Levi Montalcini.

Von Myriam Muhm
Wissenschaft 28


Versteckt und untergetaucht in Florenz arbeitete Rita Levi Montalcini in einem im Schlafzimmer errichteten primitiven Neurobiologie-Labor, um trotz des Zweiten Weltkrieges die Bestätigung für ihre Vermutung zu finden, daß es Substanzen gibt, die das Wachstum der Nervenfasern fördern. Heute, erfreut über die Entscheidung des Nobelpreiskomitees, ihr für diese gelungene Bestätigung, zusammen mit Stanley Cohen, die höchste Anerkennung zu überreichen, erinnert sie sich ungern an diese Zeiten. Sie, die damals in der antifaschistischen Partito d'Azione mitwirkte, schildert, wie sie, jüdischer Abstammung, jegliche wissenschaftliche Neugierde zurückstellen wollte, um an vorderster Front mitzukämpfen. "Aber dies", so sagt die heute in Rom lebende Forscherin, "hätte unweigerlich den Tod unserer Mutter bedeutet. So mußte ich mich damit begnügen, gefälschte Papiere und Dokumente anzufertigen."
Kurz nach Kriegsende kam die Einladung der St. Louis Washington University. Dort und in Rio de Janeiro hatte die Forscherin die Möglichkeit, die im Schlafzimmer-Labor postulierte Substanz endlich zu identifizieren. "Ich nannte sie einfach Nerve Growth Factor (NGF), in Anlehnung an meine Beobachtungen, daß die von Tumoren produzierten Faktoren das Wachstum von Nervenfasern anregten."
So einfach diese bahnbrechende Entdeckung erscheinen mag, so kompliziert und vielfältig entpuppte sich die Realität der mittlerweile unzähligen schon identifizierten und noch postulierten Wachstumsfaktoren. Die Phantasie der Forscher stimulierend, ist gerade der von Rita Levi Montalcini vor 35 Jahren entdeckte NGF immer noch Thema angeregter Grundlagenforschung. "Zur Zeit konnten wir zusammen mit Biochemikern und Immunologen feststellen, daß dieser neuronale Wachstumsfaktor auch eine wichtige Rolle im Anfangsstadium des Mastzellwachstums spielt, und dies bestätigt eine Interaktion dieser Wachstumsfaktoren mit dem Immunsystem." Die Bedeutung des NGF wurde zunächst von der Fachwelt unterschätzt. Selbst ihr Lehrer Giuseppe Levi in Turin hielt Rita Levi Montalcinis hartnäckige Suche nach hormonähnlichen Substanzen mit Signal- und Botenfunktion für puren Unsinn.
Ausschlaggebend für die späte Anerkennung", sagt Frau Levi Montalcini, "war sicherlich die heute durch die moderne Gentechnik ermöglichte Synthetisierung des NGF, denn erst damit ist die Voraussetzung gegeben worden, diese Wachstumsfaktoren Labor- und später klinischen Tests zu unterziehen, um ihre biologische Wirksamkeit in der Therapie bestimmter Krankheiten zu prüfen."
Es stellt sich nun die Frage, welche pathologischen Zustände durch den Einsatz des NGF als
Cofaktor einer komplexen Therapie geheilt, rückgängig gemacht oder zumindest begrenzt werden könnten. "Es gibt nichts Verheerenderers, als Hoffnungen zu schüren," betont die Nobelpreisträgerin, "aber sollte der synthetisch hergestellte NGF tatsächlich eine biologisch wirksame Anwendung finden, dann bestehen Hoffnungen, bestimmte degenerative Prozesse im Nervensystem zu heilen, zum Beispiel den Morbus Parkinson. Auf diesem Gebiet sind zumindest bei Tierversuchen einige positive Resultate erzielt worden."
Für die Person Rita Levi Montalcini bedeutet diese Hoffnung auf einen medizinisch-klinischen Einsatz ihrer Entdeckung einen sich zirkulär auf die Anfänge zurückbewegenden, zufriedenstellenden Abschluß ihrer Laufbahn. "Ich wollte ursprünglich als Ärztin weiterarbeiten, um mich den Kranken widmen zu können." La grande signora della scienza, diese äußerlich sehr mondäne Dame, hat aber ihr unerbittliches sozialpolitisches Engagement nie aufgegeben. Seitdem sie vor 10 Jahren nach Italien zurückkehrte, wo sie heute noch das Laboratorium für Zellforschung leitet, ist kein Jahr vergangen, in dem sie nicht unaufhörlich und öffentlich die Mißstände des italienischen Forschungssystems und die "Machtübernahme der Mediokrität", der Mittelmäßigkeit, in den Wissenschaften angeprangert hat. "Einige vor kurzem vorgenommene Personaländerungen an der Spitze des Nationalen Forschungsrats lassen aber vermuten und hoffen, daß sich in Italien diesbezüglich eine positive Wende anbahnt."
Ob auch eine Umkehr im Forschungsdenken als eine wesentliche Voraussetzung für die Zukunft der Naturwissenschaften betrachtet werden sollte, ist für Rita Levi Montalcini von geringer Bedeutung: "Ich bin der festen Überzeugung, daß die Erforschung der Natur kraft einer inneren Energie einem unvermeidlichen Ablauf folgt. Ein Wissenschaftler kann und darf nicht für eine Entdeckung, die später negative Folgen haben könnte, wie im Falle der Kernenergie, verurteilt werden; die tatsächliche Verantwortung liegt ausschließlich bei denjenigen, die diese Entdeckungen anwenden."


MYRIAM MUHM

Muhm, Myriam, Vage Hoffnung für Parkinson-Kranke, Süddeutsche Zeitung, Nr. 293, 22. Dezember 1986, S. 1, 28




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